DIE SONNE KOMMT RAUS

Wir leben noch. Dass wir das nach unserem Besuch von La Legua, dem angeblich gefaehrlichsten Viertel in Chile, sagen duerfen, haben uns im Vorfeld nicht viele Einheimische prophezeit. Ob wir wirklich dahin wollen? Dass das doch lebensmuede sei! Und wir moechten doch bitte bei Dunkelheit wieder aus dem Viertel raus sein! Die Warnungen waren deutlich. Im Nachhinein aber muss ich sagen: Wer nicht dort war, hat etwas verpasst. Und wer uns im Vorfeld die Warnungen verpasst hat, war noch nicht dort. Hinter uns liegt definitiv der beeindruckendste Tag der bisherigen Reise.

Graffiti in La Legua: Keine Gewalt ohne Antwort!

Der erste Eindruck von La Legua: Hier ist Chile zum ersten Mal richtig bunt! Die Waende, der Markt, die Menschen... Letztere reagieren sehr unterschiedlich auf uns. Manche ergreifen scheu die Flucht, anderen schmeichelt die Praesenz der vielen Kameras, wenige fuehlen sich durch deren wildes Geknipse bedraengt und verfluchen uns als "Gringos". Aber: Wir werden nicht angegriffen, muessen nicht um unsere Kameras geschweige denn unser Leben fuerchten.

Gleichwohl: Die Armut der Menschen gehoert zum bedrueckenden Teil des Ausflugs. Waehrend das Geld bei den Menschen im Nordosten von Santiago eher locker sitzt, fehlt es hier an allen Ecken und Enden. Dass die soziale Schere in Chile weiter auseinander geht als in anderen Teilen Lateinamerikas, sieht man hier nur zu deutlich.

Gustavo: Rapper und Sozialarbeiter in Personalunion

Wir treffen Gustavo, der nicht nur rappt, sondern auch soziale Arbeit in einer Schule fuer chancenarme Kinder leistet. Dort erzaehlen die Schueler zunaechst stolz von ihren Straftaten: vor allem Diebstahl und Drogenhandel. Es sind die gleichen Kinder, die wenig spaeter in einer Einrichtung fuer behinderte Menschen mitsingen, -klatschen und -tanzen und so ihre weiche Seite nach aussen kehren. Gegen die Darbietung des Volkstanzes "Cueca" sehen wir mit unserer Antwort namens "Haenschen Klein" ganz schoen alt aus. Aber auch in Sachen Gemeinschaftsgefuehl praesentieren sich die Menschen in La Legua vorbildlich.

Schulkinder: Man, bist du groß!

Nahe der Statue fuer den einstigen Praesidenten Salvador Allende tauchen ploetzlich weitere neugierige Kinderaugen neben uns auf. Sie haben es aber nicht auf unsere Kohle oder Kameras abgesehen, sondern sind ganz einfach beeindruckt von unserer Koerpergroesse. Nach einem gemeinsamen Foto dampfen sie ab nach Hause - und werden ihren Familien wohl aufgeregt berichten, wie gross gewachsen doch all die deutschen Menschen sind. Am Ende unseres Aufenthaltes in La Legua kommt zum ersten Mal die Sonne raus - und mit ihr der bombastische Blick auf die schneebedeckten, riesigen Anden (dagegen - das werden alle chilenischen Jungen bestaetigen - wirken sogar die deutschen Maenner winzig). Zufall oder nicht - dieser ueberwaeltigende Anblick passt zu einem Tag, der bedrueckend begann und beeindruckend endete.